Londons East End

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Als Victoria am 22. Juni 1897 ihr goldenes Thronjubiläum feierte, war die Quadratmeile der ehemaligen römischen Siedlung, in der damals 50 000 Seelen gelebt hatten, auf 117 Quadratmeilen angewachsen. 2 Millionen Menschen wohnten im Londoner Umland. Dazu beigetragen hatte der seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht abreißende Zustrom von Flüchtlingen aus den verschiedensten Ländern.

1845 kamen Iren, deren Kartoffelernten ausgeblieben waren, so dass sie zu Tausenden verhungerten – es war die berüchtigte Irish Famine. Die Neuankömmlinge bauten in England vor allem das Eisenbahnnetz aus. Ab 1860 etablierte sich die erste Chinatown im Gebiet um Limehouse – unweit der Hafenbecken – in denen Tee und Opium aus China angelandet wurde. Ihnen folgten ab 1889 Juden, die vor den Pogromen in Russland und Polen geflüchtet waren. Sie ließen sich in unmittelbarer Nähe des Hafens nieder.

Ehemalige Jewish Daily News in Whitechapel                   (Foto: C. Lafaire)

Es kamen aber auch deutsche und russische Radikale, die in der Armut des East Ends untertauchten. Die einst vornehmen Straßen des Viertels waren schon längst zu Slums verkommen, nachdem die wohlhabenderen Bürger in den Westen der Metropole gezogen waren. Mahnende Stimmen meinten damals, Londons 300 000 Pferde lebten besser als die Slum-Bewohner der Hafengegend um Mile End oder in Islington. 1859 starben jede Woche 2000 Einwohner an Cholera, mehr als in den Jahren, als der Schwarze Tod in London gewütet hatte. Die Slumbewohner nahmen ihr Trinkwasser direkt aus den verseuchten Flüssen der Stadt. Waschhäuser wurden eingerichtet, ein neues Kanalisationssystem gebaut und 1865 mit großem Zeremoniell eingeweiht. Die sumpfigen, verdreckten Ufer der Themse wurden durch das Embankment befestigt, der Fluß wurde dabei 100 Meter schmaler.

1863 bahnte sich in London eine kleine Revolution an, deren Ausmaß sich damals kaum jemand ausmalen konnte. Die erste Untergrundbahn , eine “Unterpflasterbahn”, wurde gebaut, die erste der Welt. Später wurden neue U-Bahnlinien in Eisenrohren wesentlich tiefer unter Straßen und Gebäuden geführt. Kenner untescheiden daher noch heute zwischen den Circle, District und Metropolitan Lines mit ihren “underground trains” und den moderneren Linien, als “tube” bekannt. Bereits 1901 führte die erste elektrische U-Bahnstrecke, die District Line von Ealing im Westen Londons nach Whitechapel im East End. Heute befördert das Londoner U-Bahnsystem über 800 Millionen Fahrgäste im Jahr.

Für die Olympiade wurden neue Züge auf neuen Strecken eingesetzt (Foto: C. Lafaire)

Um die Wende zum 20. Jahrhundert war Großbritannien die bedeutendste Macht der Welt, Londons Bevölkerung auf über 6,5 Millionen angewachsen. Dann starb Königin Victoria 1901 im 64. Jahr ihrer Regentschaft, eine Ära neigte sich ihrem Ende zu. Edward – auch der Playboy genannt – bestieg als Edward VII. den Thron. Der derzeitige Thronfolger, Prinz Charles, wartet inzwischen sogar länger darauf, die Krone zu übernehmen. Seine Mutter feierte 2012 das diamantene Jubiläumm ihrer Thronbesteigung.

1910 wurde die Port of London Authority gegründet, die Dachorganisation, dereren Aufgabe es sein sollte, den ständig wachsenden Londoner Hafen zu organisieren und zu verwalten, an dessen Kais immer mehr Schiffe aus aller Herren Länder anlegten und alle die Produkte in das Land brachten, die eine bedeutende Wirtschaftsmacht eben benötigte.

Europa steuerte auf den Ersten Weltkrieg zu. Der deutsche Kaiser Wilhelm II., war bemüht, seinem Vetter in London zu zeigen, dass auch er Herrscher über ein großes Reich war. Er ließ eine moderne Marine aufbauen, die sich mit der britischen messen konnte.

Im September 1915 flogen deutsche Zeppeline über der City of London und warfen in der Nähe der Guildhall Brandbomben ab. 39 Londoner starben in diesem ersten von vielen nächtlichen Luftangriffen auf die britische Hauptstadt. Am 11. 11. 1918 war der Krieg vorbei, den man in England “The Great War” nennen sollte. 670 Londoner waren bei den deutschen Luftangriffen  ums Leben gekommen – die meisten im East End – in den Stadtteilen Shoreditch, Spitalsfield, in Stepney, Stratford und Leytonstone.

Das deutsche Zentrum um Whitechapel, früher auch Little Germany genannt, wo ungefähr 30 000 Deutsche lebten, existierte nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr. Wenig erinnert heute noch an diese Zeit. Da ist die katholische St. Bonfatius Kirche in der Adler Street, E1 1EE. Das ursprüngliche Gebäude wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, das jetzige ist ein vielleicht architektonisch nicht gerade gelungener Neubau.

Nicht weit entfernt – in der Alie Street – befindet sich die lutherische St. Georgs Kirche. Sie wurde 1762 gegründet und ist das älteste noch bestehende deutsche Kirchengebäude in England. Sie wird aber – im Gegensatz zu St. Bonifatius – nicht mehr für Gottesdienste genutzt. Sie untersteht heute dem Historic Chapels Trust. Es finden Konzerte hier statt und hin und wieder auch ein “Tag der offenen Tür”.

St. Georgskirche, Alie Street                (Foto: C. Lafaire)

Seit Jahren vollzieht sich in Teilen des East End ein gewaltiger demographischer  Wandel. Chinatown hat sich ins West End verlagert. Die jüdische Bevölkerung ist nach Nordlondon gezogen, in ihren Straßen wohnen heute Einwanderer aus Bangladesh und Pakistan. In unmittelbarer Nähe der St Bonifatius Kirche befindet sich die East London Mosque eine der größten Moscheen Londons.

Die Einwanderer vom indischen Subkontinent haben Farbe ins East End gebracht (Foto: C. Lafaire)

Der Hafen existiert nicht mehr, dort wo über Generationen Waren aus aller Welt gelöscht wurden, stehen heute die Hochhäuser internationaler Finanzhäuser. Die Seemannskneipen sind entweder abgerissen oder in teuere Gastro Pubs verwandelt worden.

Greenwich mit Canary Wharf im Hintergrund (Foto: Karl Teofilovic)

Ein kurzer sozialgeschichtlicher Überblick: Das East End hat eine lange Geschichte des Kampfes gegen Armut, Unterdrückung, Rassismus – aber auch der Gewalttätigkeit und Ausbeutung.

Bereits 1679 kam es zu Krawallen der Seidenweber von Spitalsfield. Sie marschierten vor das Parlamentsgebäude, um gegen die niedrigen Einfuhrzölle auf importierte Seide zu protestieren. Sie machten gleichzeitig auf die Probleme der Arbeitslosigkeit und Armut im East End aufmerksam.

1867 gründete Thomas Barnado das erste Heim für arme Kinder, die nachts in den Straßen des East End schliefen. Die Barnado’s Homes gibt es noch heute.

Die Heilsarmee wurde 1878 in Whitechapel ins Leben gerufen. 1888 begann Jack the Ripper Prostituierte im East End zu ermorden und zerstückeln. Nach dem fünften Opfer verschwand er und wurde nie gefunden.

Lenin und Stalin nahmen am Fünften Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in einer Kirche in Hoxton teil.

1911 fand die Belagerung der Sidney Street statt. Nach einem schiefgelaufenen Einbruch bei einem Juwelier in Houndsditch, leisteten sich zwei lettische Anarchisten eine siebenstündige bewaffnete Schlacht mit über 200 Polizisten. 2011 erinnerten fast alle englischen Zeitungen an diesen Vorfall.

1912 gründete Sylvia Pankhurst die Ostlondoner Föderation der Suffragetten.

Eine der berühmtesen Straßenschlachten fand 1936 in der Cable Street statt. Die East Ender verhinderten einen Marsch von Oswald Mosleys faschistischen Partei British Union of  Fascists durch das jüdische Viertel des East End.

1938 gingen die Massen erneut auf die Straße, diesmal um gegen die hohen Mieten in Stepney zu protestieren.

Während des Zweiten Weltkriegs fielen die deutschen Bomben hauptsächlich aufs East End. Allein bei  einem zehnstündigen Luftangriff auf den Stadtteil kamen über 400 Menschen ums Leben.

1950 kommen die ersten Einwanderer aus der Karibik im Londoner Hafen an.

Die 1960er Jahre repräsentieren nicht nur das Zeitalter einer Jugendrevolution, sondern auch die Zeit der Kray-Brüder. Die Gangster-Zwillinge beherrschten bis 1968 das Gebiet.

1981 wird eine Neubebauung des ehemaligen Hafens durch die London Docklands Development Corporation in die Wege geleitet.

Eine weitere Regenerierung wird 2005 ausgelöst, nachdem London den Zuschlag für die 2012 Olympiade erhält. Vor allem der Stadtteil Stratford wird hiervon betroffen.